„Neue Umbaukultur“
Bundesstiftung für Baukultur: Baukulturbericht 2022/2
Planungs- und Baurecht
Das Baurecht ist auf den Neubau ausgerichtet.
Angesichts der gesellschaftlichen Konsequenzen sollten Sanieren und Bauen im Bestand dem Neubau aber zumindest gleichgestellt sein. Um Bestandsmaßnahmen zu erleichtern, wäre sogar eine Besserstellung wünschenswert. In einem Fachgespräch zu dem Thema hat die Bundesstiftung Baukultur mit Fachleuten die „Big Six“ der Hemmnisse definiert: Vorgaben zu Wärmeschutz, Schallschutz, Brandschutz, Abständen, zur Barrierefreiheit und zum Stellplatzangebot bereiten dem Bauen im Bestand die größten Probleme.
Beim Wärmeschutz gibt es für denkmalgeschützte Gebäude und besonders geschützte oder erhaltenswerte Bausubstanz mit dem § 105 bereits die Möglichkeit, vom Gebäudeenergiegesetz abzuweichen, wenn das Erscheinungsbild beeinträchtigt würde oder ein unverhältnismäßig hoher Aufwand entstünde. Auch für das generelle Bauen im Bestand sollte es Erleichterungen geben, die nicht nur ausnahmsweise, sondern regelhaft gelten.
Seit längerer Zeit fordern die Bundesarchitektenkammer (BAK) und die Bundesstiftung Baukultur, die Musterbauordnung in eine Umbauordnung zu ändern und haben dazu im November 2021 an die Bauministerkonferenz appelliert. Unterstützt wird das Anliegen von privaten Initiativen wie „Architects for Future“. Der Verein hat 2021 ebenfalls einen Vorschlag für eine Musterumbauordnung vorgelegt. Die Vorschläge setzen dort an, wo der Aufwand für Baumaßnahmen im Bestand so hoch ist, dass er Sanierung und Weiternutzung erschwert oder verhindert. Beim Brandschutz wird ein Katalog definierter Kompensationen als Alternative zur Zustimmung im Einzelfall genannt.
Barrierefreiheit ließe sich durch einen Quartiersansatz realisieren, ohne in jedem Bauwerk zu höherem Flächenbedarf zu führen.
Die Schallschutzanforderungen würden vom hohen Neubaustandard entkoppelt und als Verbesserungsgebot gedacht.
Was Stellplätze angeht, sind die Landesbauordnungen von Berlin und Hamburg richtungsweisend. Dort wurde die KfzStellplatzpflicht für Wohnungen abgeschafft. In Berlin müssen lediglich Behindertenparkplätze für öffentlich zugängliche Gebäude nachgewiesen werden.
Abstandsflächen können bei Anbau oder Aufstockung zum Problem werden. Um ohne Boden zu versiegeln, mehr Wohnfläche zu gewinnen und den Bestand aufzuwerten, sollte der Nachweis ausreichender Belüftung und Belichtung genügen. Der Schutz der Artenvielfalt wie der der Lebens und Aufenthaltsqualität im Außenraum lassen sich – besser als durch Abstandsflächen – durch den Nachweis qualitätsvoller Freiräume auf Gebäude oder Quartiersebene belegen.
Als ersten Schritt hat die Fachkommission Bauaufsicht Ende 2021 den Entwurf einer Änderung der Musterbauordnung beschlossen, der vor allem bei den Abstandsflächen und im Brandschutz Anpassungen enthält, die dem Bestand zugutekommen. Ein Gebäude an rechtliche Vorgaben anzupassen, die erst nach seiner Entstehung in Kraft getreten sind, wirft naturgemäß besondere Schwierigkeiten auf.
Quelle: bundesstiftung-baukultur.de, abgerufen am 08.10.2024
Kurzfassung der Handlungsempfehlungen
Umbau zum neuen Leitbild machen!
Vielfältig nutzbare Orte, eine belastbare Infrastruktur und attraktive, klimagerechte Lebensräume müssen vorrangige Ziele kommender Planungen sein. In unseren Städten, Orten und Landschaften müssen bestehende Qualitäten erkannt und als Ausgangspunkt und Inspiration zur Weiterentwicklung nutzbar gemacht werden.
Innenstädte für Nutzungsvielfalt und Flexibilität umplanen!
Städte und Gemeinden brauchen im Zentrum eine ihrer Identität angemessene Funktionsmischung aus Einzelhandel, Gastronomie, Freizeitangeboten und Kultur, aber auch Wohnen, Bildung, Gewerbe, Produktion und soziale Angebote.
Klimaanpassung mit Umbaukultur umsetzen!
Anpassungsmaßnahmen, die der Klimawandel erforderlich macht, müssen mit baukulturellen Anliegen verknüpft werden, um über die reine Zweckmäßigkeit hinaus einen echten Mehrwert für die Gesellschaft zu generieren.
Belastbare Infrastrukturen entwickeln!
Mobilitätswende und Klimaschutz erfordern umfangreiche Anpassungen einer Infrastruktur, die durch mangelnde Pflege und Wartung ohnehin an vielen Stellen in einem desolaten Zustand ist. Baukultur muss zur Richtschnur werden, um die anfallenden Aufgaben wirklich nachhaltig zu lösen.
Paradigmenwechsel hin zur Umbaukultur einläuten!
Der Fokus von Politik, Verwaltung, Bauwirtschaft und Öffentlichkeit muss sich schon aus volkswirtschaftlichen und ökologischen Gründen vom Neubau hin zum Umbau verschieben. In diesem Paradigmenwechsel liegen Chancen für Klimaund Ressourcenschutz, für ein neues Verständnis von Gestaltung und für Bauwerke, die auch für kommende Generationen noch wertvoll sind.
Goldene Energie nutzen!
Der Bestand ist nicht nur aufgrund der in ihm gespeicherten Emissionen, der sogenannten grauen Energie, wertvoll, sondern auch aus immateriellen, kulturellen Gründen. Seinen Wert zu sehen und zu vermitteln, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die am Planen und Bauen Beteiligten müssen die dem Bestand innewohnende goldene Energie erkennen und die Potenziale einer neuen Gestaltungssprache im Umgang mit dem Bestand herausarbeiten.
Umbaufähigkeit zur Grundlage machen!
Bauwerke sollten so geplant werden, dass spätere Nutzungsänderungen und Umbauten möglichst einfach und klimaverträglich umgesetzt werden können. Flexibilität und eine auf den Lebenszyklus ausgerichtete umbaufähige Bauweise, die dennoch in Gestaltung und Materialwahl auf Dauerhaftigkeit fokussiert, müssen Planungsprämissen werden.
Strukturen auf die neue Umbaukultur ausrichten!
Nach Jahrzehnten der Fokussierung auf den Neubau gilt es, bestehende Strukturen und Regelwerke aufzubrechen und im Sinne einer Umbaukultur neu auszurichten. Umfangreicher Anpassungsbedarf besteht bei den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen genauso wie bei eingeübten Abläufen in Verwaltung und Baubranche.
Rahmenbedingungen anpassen!
Sowohl durch Anreizsysteme als auch durch Reglementierungen können Umbaumaßnahmen dem Neubau gegenüber an Bedeutung gewinnen. Die Prinzipien der Normierungs- und Zulassungsverfahren gehören auf den Prüfstand.
Verantwortung der öffentlichen Hand wahrnehmen!
Ökologische, soziale und baukulturelle Verantwortung sollte in den Kommunen gleichgestellt zu finanzieller Verantwortung wahrgenommen werden. Die öffentliche Hand muss beispielhaft agieren und Umbauvorhaben konsequent fördern, beratend unterstützen und ermöglichen. Vergabekriterien sind im Sinne der Nachhaltigkeit und des Bestandserhalts anzupassen.
Bestand als Schlüssel zum Klimaschutz begreifen!
Entscheidend für den Klimaschutz ist nicht die Betriebsenergie allein, sondern die Emissionen, die bei Herstellung, Betrieb und Rückbau entstehen. Dem Bestand sollte also immer Vorrang vor dem Neubau gegeben werden, auch weil somit wertvolle Ressourcen erhalten werden.
Phase Null und Phase Zehn ins Zentrum stellen!
Die Bedarfsplanung und Voruntersuchungen der Phase Null und die Unterhaltungsmassnahmen der Phase Zehn sind für eine Umbaukultur essenziell. Projekte müssen umfassend abgewogen und gut aufgestellt sein, um die Besonderheiten des Bestands zu berücksichtigen, spätere Pflege, Wartung und Umbaubarkeit mitzudenken und einen frühzeitigen Rückbau zu vermeiden.
Quelle: bundesstiftung-baukultur.de, abgerufen am 08.10.2024
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„Neue Umbaukultur“
Baukultur-Bericht 2022/23,
Bundesstiftung Baukultur
Download PDF
Baukulturbericht 2022/23
auf der Webseite der Bundesstiftung Baukultur
www.bundesstiftung-baukultur.de/…/pdf